10. Interview – Erzähl mir deine (Schul-) Geschichte
Das Interview wurde geführt mit
Sandra Haase (geb. Kaatz)
Marno Wittenberg (v.l.n.r.)
Datum des Interviews: 2. Juni 2021
Schulzeit: 1980 – 1990 (die ersten vier Jahre in Wittbrietzen)
Die ersten vier Schuljahre konnten die Kinder wohl behütet in der Wittbrietzerner Schule und im Hort verbringen, ab der fünften Klasse ging es bereits nach Beelitz zur Schule. Dieses Interview gibt Einblicke in die Pionier- und FDJ-Methoden der DDR-Jugend der 80er Jahre, über Gruppenratswahlen bis hin zum ZV-Unterricht. Und dann kam die Wende – alles änderte sich schlagartig und viele Schüler aus dem Jahrgang mussten sich komplett neu orientieren.
Eingeschworene Gemeinschaft
Die Schulklasse hatte anfangs nur 13 Schüler, in der dritten Klasse kamen noch zwei weitere Kinder durch Zuzug dazu. Die Schüler waren je zur Hälfte aus Wittbrietzen und aus Buchholz ein Kind kam aus Elsholz. Die Schulklasse war eine eingeschworene Gemeinschaft, die heute noch alle zwei Jahre ein Wochenende lang Klassentreffen feiert. Als Schulbücher gab es zum Start eine orangenfarbene Fibel und ein blaues Mathebuch. In den Schulbüchern spielten zu der Zeit Soldaten und Panzer eine große Rolle. Die jungen Schüler starteten die ersten Schreibversuche sofort mit einem Tintenpatronen-Füllfederhalter.
Von Schulfächern und Fluortabletten
Die Standardfächer in den ersten Klassen waren Mathe und Deutsch, Schreiben und Lesen wurden unterschieden, Heimatkunde eingeteilt in Naturkunde und Gesellschaftslehre, Zeichnen und Sport. Die vier Klassenstufen wurden in den verschiedenen Schulhäusern aufgeteilt. Das Klassenzimmer wurde mit einem Kachelofen geheizt. Es gab in der Frühstückspause Milch in Flaschen: Schoko, Erdbeere, normale Milch. Die Milchkästen standen im hinteren Teil des Klassenraums. Jeden Tag mussten die Schüler Fluortabletten zu sich nehmen, die ziemlich ekelig schmeckten.
Klassenlehrerin Frau Schade hinterließ Eindruck
Die Klassenlehrerin war Frau Schade, sie unterrichtete alle Hauptfächer. In der dritten Klasse wurde dann Frau Gehrmann die Klassenlehrerin. Frau Wollanky unterrichtete Zeichnen, Frau Rau Musik und Frau Schumacher, die Direktorin, übernahm den Schulgarten. Vor allem der positive Eindruck von Frau Schade weckte bei Sandra Haase schon in der zweiten Klasse den Wunsch, später selbst einmal Lehrerin zu werden.
Pionierleben und Christenlehre
Das Pionierleben gehörte zum Alltag. Das schloss aber nicht aus, dass viele Kinder auch die Christenlehre besuchten und später konfirmiert wurden. Die Kinder gingen mit großer Leidenschaft der Pionierarbeit nach, zum Beispiel sammelten sie Altpapier, um die Klassenkasse aufzubessern. Sie freuten sich jedoch genauso auf das Adventssingen, bei dem sie im Rahmen der Christenlehre mit dem Pfarrer von Tür zur Tür zogen und kostümiert Lieder vortrugen.
Gruppenratswahlen und ZV-Unterricht
Ab der zweiten Klasse gab es Gruppenratswahlen bei der ein Gruppenratsvorsitzender, ein Stellvertreter und ein Agitator gewählt wurden. Es wurde auch ein Gruppenbuch über die Pionier-Aktivitäten geführt. Erst als die Schüler älter wurden, ab Klasse 9, wurden sie selbstkritischer und hinterfragten viele der Pionier- und FDJ-Methoden. Später gab es ZV-Unterricht, Zivilverteidigung, bei dem die Schüler u.a. mit Uniform und Gasmaske bei Übungen umherlaufen sollten. Mit zunehmendem Alter wurde den Schülern bewusst, dass sie z.B. nicht aus der FDJ austreten sollten, wenn sie studieren oder einen Lehrerberuf ausüben möchten. Die männlichen Schüler wurden gefragt, ob sie eine Laufbahn bei der NVA einschlagen möchten und dabei aufgeklärt, auf welche Sachen sie dann verzichten müssten bzw. was sie nicht machen dürften.
Mittag in der ZBE und Schulausflüge
Für alle Kinder war es an der Wittbrietzener Schule eine glückliche, harmonische und wohl behütete Schulzeit. Fürs Mittagessen fuhr ein Schulbus die Schüler zur ZBE, heute Agricola, und brachte sie wieder zurück zur Schule. Manchmal mussten die Schüler auch laufen, wenn der Bus ausgefallen war. Zum Schwimmunterricht fuhren die Schüler nach Potsdam zur Schwimmhalle am Brauhausberg, dort konnten sie dann die beliebte „Grilletta“ essen. Aufgrund der Tatsache, dass die Wittbrietzener Schule relativ klein war, 4 Klassen mit jeweils max. 20 Schülern, und somit nur wenige Schüler hatte, konnten die Lehrer Schulausflüge anbieten so z.B. nach Berlin in die Oper, zu „Peter und der Wolf“.
Nach der Wende machten viele Abitur
Auch die Berufsanforderungen für Grundschullehrer wurden nach der Wende neu definiert. Jetzt wurden Abitur und Hochschulstudium vorausgesetzt, während man in der DDR den Beruf des Grundschullehrers auch ohne Studium ausüben konnte. Zu DDR-Zeiten haben nur wenige Schüler Abitur in der Erweiterte Oberschule, EOS, gemacht, weil es keinen Bedarf dafür gab. Studienplätze waren Mangelware. Der Bedarf an Abiturienten änderte sich nach der Wende schlagartig. Darum machten viele Schüler ihr Abitur nach. Für Sandra Haase war das Hochschulstudium aus fachlicher Sicht für den Lehrberuf schon wichtig, aus methodischer Sicht spielte es aber eine untergeordnete Rolle, später im Alltag als Grundschullehrerin kam sie immer wieder auf die Methodik aus den früheren Zeiten zurück.
Inhalt des vollständigen 10. Interviews (Länge 55:24 min)
- (00:05) die Einschulung am 30. August 1980 war auch der 7. Geburtstag von Sandra Haase, es gab zum Ehrentag ein Blümchen von der damaligen Klassenlehrerin Frau Schade
- (00:58) da beide in der Nähe der Schule wohnten, der Schulweg war nicht länger als 100 m, gab es schon im Vorschulalter Erinnerungen an das Schulhaus sowie an die Lehrer und Schüler auf dem Schulhof
- (03:22) ) es waren anfangs nur 13 Kinder in der Klasse, je zur Hälfte aus Wittbrietzen und Buchholz nur ein Kind kam aus Elsholz. Die Schulklasse war eine eingeschworene Gemeinschaft, die heute noch alle zwei Jahre ein Wochenende lang Klassentreffen feiert
- (04:20) als Schulbücher gab es zum Start eine orangenfarbene Fibel und ein blaues Mathebuch, in den Schulbüchern spielten zu der Zeit Soldaten und Panzer eine große Rolle, es wurde gleich angefangen, mit einem Füllfederhalter zu schreiben, außerdem gab es einen Polylux (Polylux (Gerät) – Wikipedia)
- (05:45) die Standardfächer in den ersten Klassen waren Mathe und Deutsch, Schreiben und Lesen wurden unterschieden, Heimatkunde hier unterschied man zwischen Naturkunde und Gesellschaftslehre, Zeichnen, Sport, die vier Klassenstufen waren in den verschiedenen Schulhäusern verteilt
- (07:33) zur Zeit der geburtenschwachen Jahrgänge in der DDR war die Schüleranzahl in den Klassen nur sehr gering, 13 Kinder aus drei Dörfern, die späteren Jahrgänge später fielen noch kleiner aus
- (10:20) im Klassenraum gab es Holzstühle und Tische, getrennt voneinander. Geheizt wurde mit einem Kachelofen. Es gab in der Frühstückspause Milch in Flaschen und auch in Pyramidenform-Tetrapacks, die Milchkästen standen hinten im Klassenraum. Jeden Tag mussten die Schüler Fluortabletten einnehmen. Jeder Schüler hatte eine Brottasche, die Schulmappen waren aus wiederstandsfähigem dicken Leder und wurden in den ersten vier Klassen getragen
- (15:22) Frau Schade war Klassenlehrerin und unterrichtete die Hauptfächer, in der dritten Klasse wurde Frau Gehrmann Klassenlehrerin, Frau Wollanky unterrichtete Zeichnen, Frau Rau Musik, Frau Schumacher, die Direktorin, unterrichtete Schulgarten
- (18:20) Vor allem Frau Schade weckte bei Sandra Haase schon in der zweiten Klasse den Wunsch, selbst einmal Lehrerin zu werden, und sie wurde Lehrerin.
- (22:20) Es war eine harmonische Schulzeit. Zum Mittagessen fuhr ein Schulbus die Schüler zur ZBE, heute Agricola, und brachte sie wieder zurück zur Schule. Manchmal mussten die Schüler auch laufen, wenn der Bus ausgefallen war. Zum Schwimmunterricht fuhren die Schüler nach Potsdam zur Schwimmhalle am Brauhausberg, dort konnten die Schüler dann die beliebte „Grilletta“ essen.
- (23:11) Aufgrund der Tatsache, dass die Wittbrietzener Schule relativ klein war, 4 Klassen mit jeweils max. 20 Schülern, und es nur wenige Schüler waren, konnten die Lehrer Schulausflüge anbieten, z.B. nach Berlin in die Oper zu „Peter und der Wolf“.
- (24:05) nachmittags im Hort gingen Frau Wollanky (geb. Zimmermann) oft mit den Schülern zu den „Wurzeln“, ein Waldstück hinter dem Gelände der ZBE, heute Agricola, der Hort war auf dem Dachboden des zweiten Schulhauses und ging bis 16 Uhr
- (27:30) Die Mehrheit der Schüler besuchten den Hort, nur wenige Kinder gingen direkt nach der Schule nach Hause zu den Großeltern, 15 Jahre davor sah es noch ganz anders aus, es gab kein Hort und die Kinder mussten auf dem Bauernhof helfen
- (27:52) samstags gab es auch Schulunterricht, meist 4 Stunden. Mit der Wiedervereinigung im Jahre 1990 wurde der schulfreie Samstag in allen Bundesländern eingeführt
- (28:26) nach dem Hort trafen sich die Kinder zum Spielen, manchmal musste auch im Garten ausgeholfen werden, da die meisten Familien keine Tierhaltung im größeren Stil mehr betrieben, hatten die Kinder mehr Freizeit
- (31:00) das Pionierleben gehörte zum Alltag, schloss aber nicht aus, dass viele Kinder auch in die Christenlehre gingen und später konfirmiert wurden. Die Kinder sammelten mit der gleichen Leidenschaft Altpapier, wie sie auch zum Adventssingen mit dem Pfarrer von Tür zur Tür zogen
- (34:00) Ab der zweiten Klasse gab es Gruppenratswahlen bei dem ein Gruppenratsvorsitzender, Stellvertreter und Agitator gewählt wurden. Es wurde ein Gruppenbuch über die Aktivitäten geführt. Erst als die Schüler älter wurden, ab der 9. Klasse, wurden sie selbstkritischer und hinterfragten viele der Pionier- und FDJ-Methoden. Später gab es ZV-Unterricht, Zivilverteidigung, bei dem die Schüler u.a. mit Uniform und Gasmaske bei Übungen durch die Gegend laufen sollten.
- (35:38) Mit zunehmenden Alter wurde den Schülern bewusst, dass sie z.B. nicht aus der FDJ austreten sollten, wenn sie studieren oder einen Lehrerberuf ausüben möchten. Die männlichen Schüler wurden gefragt, ob sie eine Laufbahn bei der NVA einschlagen möchten und dabei darüber aufgeklärt, dass sie andere Sachen dann nicht machen können.
- (36:25) Die Schüler fühtlen sich in der Wittbrietzener Schule glücklich und behütet, bei Problemen wurde man aufgefangen. Es war rückblickend betrachtet für beide eine sehr schöne Zeit
- (37:25) Als die Berliner Mauer am Donnerstag den 9. November 1989 fiel, kamen nur wenige Schüler am darauffolgenden Samstag in die Schule. Mit der Wende begannen die Probleme und Unsicherheiten. Schüler konnten ihre Lehrstellen nicht mehr wahrnehmen, weil viele Betriebe von heute auf morgen schichtweg nicht mehr existierten.
- (40:51) Auch die Berufsanforderungen an Grundschullehrer wurde durch die Wende neu definiert. Auf einmal wurde Abitur und Hochschulstudium vorausgesetzt, während man in der DDR den Beruf des Grundschullehrers auch ohne Studium ausüben konnte.
- (42:10) Zu DDR-Zeiten haben nur wenige Schüler Abitur an der Erweiterte Oberschule / EOS gemacht, weil es keinen Bedarf gab. Studienplätze waren Mangelware, der Bedarf an Abiturienten änderte sich nach der Wende schlagartig. Deswegen machten viele Schüler ihr Abitur nach.
- (44:17) Für Sandra Haase war das Hochschulstudium aus fachlicher Sicht für den Lehrberuf schon wichtig, aus methodischer Sicht spielte es aber eine untergeordnete Rolle. Später im Alltag als Grundschullehrerin kam sie immer wieder auf die Methodik aus der früheren Zeit zurück.
- (52:10) Der schulische Werdegang lieferte bei beiden eine gute Basis für den Einstieg ins Studium bzw ins Arbeitsleben, obwohl die Wende vieles durcheinander würfelte.
Fragekatalog – Folgende Fragen wurden gestellt
- Wie heißt du und wann bist du in Wittbrietzen zur Schule gegangen?
- Was sind die ersten Erinnerungen an deine Schulzeit?
- Wie groß war eure Klasse? Welches Schreib- und Schulmaterial hattet ihr zur Verfügung und an welche Anschauungsmaterialien und technischaen Geräte erinnerst du dich?
- Welche Erinnerungen hast du an das Schulgebäude, seine innere Ausstattung und den Schulhof? Was hing an den Wänden?
- An welche Lehrer erinnerst du dich und warum? Wie erlebtest du das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern?
- Wie sah dein weiterer Tagesablauf nach der Schule aus und in welcher Weise haben deine Eltern deine schulische Entwicklung begleitet?
- Welchen Stellenwert hatte für dich die kirchlichen Parallelangebote Christenlehre und Junge Gemeinde?
- Mit welchem Bild, welcher Methapher würdest du deine Schulzeit in Wittbrietzen beschreiben wollen?
- Welche besonderen Umstände in der Familie, im Dorf und in der Gesellschaft prägten eure Schulzeit? Welchen Einfluss hatte die Politik auf deinen Schulalltag?
- Gibt es sonstige besondere Erlebnisse oder Konflikte, die du mit deiner Schulzeit / Freizeit verbindest?
- Hast du den Eindruck, eine gute und ausreichende Schulbildung genossen zu haben?
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