12. Interview – Erzähl mir deine (Schul-) Geschichte
Das Interview wurde geführt mit
Marianne Rau
Hans Oestereich
Datum des Interviews: 12. Januar 2024
Schulzeit: 1960 – 1970
In den 60ern wurde Gemeinschaft unter den Kindern groß geschrieben, Jungen und Mädchen spielten nach der Schule zusammen draußen bis es dunkel wurde. Pfarrer Gümbel schweißte die Kinder mit der Jungen Gemeinde zusammen. Die umliegenden Dorfschulen bildeten ein „Schulkombinat“. Die Wittbrietzener Schüler wurden je nach Klassenstufe in Elsholz und Buchholz unterrichtet.
3. Klasse in Elsholz, 4. Klasse in Buchholz
Der Jahrgang von 1960 besuchte die Wittbrietzener Schule nur in den ersten zwei Jahren. Als die Schulen der umliegenden Dörfer zu einem „Schulkombinat“ wurden, verlegte man die dritte Klasse nach Elsholz, die vierte Klasse nach Buchholz. Von der fünften bis zur achten Klasse wurde dann wieder in Wittbrietzen unterrichtet.
Schulmaterialien
Typische Schulmaterialien in dieser Zeit waren Schreibheft, Zeichenheft und ein Pionier-Kolbenfüller zum Aufziehen. Die Schultische waren sehr alt und mit den Sitzen verbunden (= Schulbank), Kippeln war unmöglich. Im Tisch war noch eine Mulde für das Tintenfass eingelassen.
Arbeitsgemeinschaft „Junge Zoologen“
Junglehrer Günter Schmidt brachte frischen Wind in den Unterricht, er unterrichtete Sport, Biologie und Chemie. Außerdem gründete er die Arbeitsgemeinschaft „Junge Zoologen“. Jeden Donnerstag trafen sich die Schüler auf seinem Hof, auf dem er eine große Vogelvoliere mit vielen einheimischen Vögeln und ein Terrarium mit Schildkröten hatte.
„Meter“ unter den Kastanien
Nach der Schule und dem Mittagessen zu Hause erfüllten die Jugendlichen ihre Haushaltspflichten und machten Hausaufgaben. Danach trafen sich die Mädchen und Jungen zum Spielen unter den Kastanien hinter der Kirche und auf dem überwucherten Kirchenfriedhof. Das liebste Spiel war „Meter“. Es wurde auch Schlagball oder Murmeln gespielt.
Pfarrer Gümbel begeisterte
Zusammen mit der Jungen Gemeinde unter Pfarrer Gümbel unternahmen die Jugendlichen viele Reisen. So sind sie mit dem Fahrrad vom Kremmen nach Alt Ruppin geradelt oder sie zelteten in Boek an der Müritz. Mit den Mopeds fuhren sie sogar von Wittbrietzen über Dresden und Prag bis in die Hohe Tatra. Pfarrer Gümbel durfte auf den Zeltplätzen nicht als „Herr Pfarrer“ angesprochen werden, sondern bot den Jugendlichen schnell das Du an. Er gab sich als Musiker aus, um Probleme mit der damaligen Regierung der DDR zu vermeiden.
UTP- und ESP-Unterricht
Beim UTP-Unterricht (Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion) fuhren die Schüler nach Sutendorf / Marggraffshof und halfen dort in den Kuh- und Schweineställen aus. Im ESP-Unterricht (Einführung in die sozialistische Produktion) lernten sie Schweißen, Feilen, Löten und lernten beispielsweise wie ein Viertakt-Ottomotor und ein Wankelmotor arbeitet.
Spaß im Winter
Im Winter wurde nach der Schule gern auf den zugefrorenen Wiesen und dem zugefrorenen Dorfteich gespielt und Schlittschuh gelaufen. Es wurde z.B. ein Holzpfahl durch die Eisdecke in den Boden gerammt ein 6m langes Seil dranbefestigt und am Ende des Seils ein Schlitten, auf dem die Kinder sich festklammerten, wenn der Schlitten mit Schwung den Holzpfahl umkreiste. Auf dem zugefrorenen Dorfteich bauten die Kinder „Knäckerbahnen“, ein Spiel, bei dem sie solange übers zu brechende (=knäckernde) Eis liefen, bis man einbrach. Der Dorfteich war allerdings nicht tief und die Kinder gingen nicht das Risiko zu ertrinken ein.
Die weiße Ratte
Ein Lehrer legte ein frisch gehäutetes Tierpräparat einer weißen Ratte in den Lehrmittelschrank. Dieses entwickelte nach ein paar Tagen einen starken Verwesungsgeruch, den man wochenlang nicht aus den Schulräumen herausbekam.
Inhalt des vollständigen 12. Interviews (Länge 01:25:39 min)
- (00:25) Der Jahrgang von 1960 besuchte die Wittbrietzener Schule nur in den ersten zwei Jahren. Als die Schulen der umliegenden Dörfer zu einem Schulkombinat zusammen gelegt wurden, gingen die Kinder, je nach Klassenstufe, die dritte Klasse in Elsholz und die vierte Klasse in Buchholz zur Schule. Von der fünften Klasse bis zur achten Klasse wurde in Wittbrietzen unterrichtet
- (02:55) Die Klassenstärke der ersten beiden Jahrgänge war mit ca. 12 Kindern recht klein. Den Klassenraum teilten sich die Schüler der ersten Klassen mit den Drittklässlern. Später, als die umliegenden Dorfschulen zum Schulkombinat zusammengeschlossen wurden, wuchs die Klasse auf 36 Schüler an
- (05:00 + 06:29) Typische Schulmaterialien in dieser Zeit waren Schreibheft, Zeichenheft und ein Pionier-Kolbenfüller zum Aufziehen. Die Schultische waren sehr alt und mit den Sitzen verbunden (= Schulbank), Kippeln war unmöglich. Im Tisch war noch eine Mulde für das Tintenfass eingelassen
- (06:10) Klassenleiterin in der 1. Klasse war Frau Schumacher, in der 2. Klasse Frau Schmeier
- (07:00) An den Wänden des Klassenzimmers hingen Bilder von Walter Ulbricht und Willi Stoph. Der Raum war zweckmäßig eingerichtet und wurde mit einem Kachelofen beheizt. Die Schüler haben eigenständig den Ofen mit Kohle nachgeheizt
- (09:10) Die Sanitäranlagen waren der Zeit entsprechend mit holverschalten Plumpsklos ausgestattet, als Toilettenpapier nutzten die Schüler zerrissenes Zeitungspapier. Oftmals verkniffen sich aber die Schüler, überhaupt auf Toilette zu gehen
- (09:50) Jeder Schüler hatte seine Stullentasche, die wie eine kleine Schulmappe aussah, zur Verpflegung dabei. Die Schulmappe war aus Schweinsleder und sah bei allen Schülern sehr einheitlich aus, ohne modischen Schnickschnack
- (09:54) Am Rand des Schulhofes standen Maulbeerbäume, an denen Seidenraupen gezüchtet wurden (als Seide für Fallschirme), Seidenraupen wurden auf dem Stallboden gehalten, Schüler mussten die Maulbeerblätter pflücken und sich um die Seidenraupen kümmern
- (11:00) Mittagessen gab es in der Schule nicht. Die Schüler aßen nach der letzten Stunde zu Hause
- (12:00) Das Ehepaar Schumacher wohnten im Schulhaus #3, im oberen Stockwerk des Hauses wohnte Frau Rademacher. Junglehrer Günter Schmidt brachte frischen Wind in den Unterricht, er unterrichtete Sport, Biologie und Chemie. Außerdem gründete er die Arbeitsgemeinschaft „Junge Zoologen“. Jeden Donnerstag trafen sich die Schüler auf seinem Hof, auf dem er eine große Vogelvoliere mit vielen einheimischen Vögeln und ein Terrarium mit Schildkröten hatte
- (17:55) Ab der 5. Klasse wurde Russisch als Pflichtfach von Herrn Klusmeier unterrichtet, es war die einzige Fremdsprache
- (19:02) Schülerstreich mit dem Lehrer Herr Hoffmann, die Schüler bauten sich mit Hilfe von Nadeln und Streichhölzern kleine Dartpfeile, die sie in Richtung Schultafel warfen. Der Lehrer konterte mit dem Werfen von Kreidestücken
- (20:28) Englisch gab es nur als fakultativen Unterricht in Beelitz
- (22:30) Die 3. Klasse wurde in Elsholz von der Lehrerin Frau Wüstenhagen unterrichtet, der Klassenraum dort war orange gestrichen und färbte stark auf die Kleidung der Schüler ab, wenn diese mit den Wänden in Berührung kamen
- (23:10) Die Schüler untereinander hielten zusammen und spielten in der Freizeit zusammen draußen auf dem Schulhof. Während des Sportunterrichts wurde mit einem Medizinball Völkerball gespielt
- (24:50) Die Gemeinschaft unter den Schülern in den höheren Klassenstufen wurde vor allem durch die evangelische Jugendgruppe der Junge Gemeinde unter Pfarrer Gümbel positiv beeinflusst und schweißte zusammen
- (25:10) Dennoch wurde auch ein Schüler von Mitschülern und von Lehrern gehänselt, der es vor allem aufgrund familiärer Gegebenheiten nicht einfach hatte. Dieser Schüler verließ dann nach der 8. Klasse die Schule. Es gab zwar schon den Anspruch auf eine zehnjährige Schulpflicht, aber vor allem leistungsschwächere Schüler durften nach der 8. Klasse abgehen
- (28:45) Nach der Schule und dem Mittagessen zu Hause, mussten die Jugendlichen Haushaltspflichten erfüllen und Hausaufgaben machen. Danach trafen sich die Mädchen und Jungen zum Spielen unter den Kastanien hinter der Kirche und auf dem überwucherten Kirchenfriedhof. Das liebste Spiel war „Meter“. Es wurde auch Schlagball oder Murmeln gespielt
- (32:30) Der Fernseher spielte noch keine große Rolle, war in den Familien auch noch nicht weit verbreitet
- (32:55) Im Sommer fuhren die Kinder mit dem Fahrrad zum Kiesschacht und zum Dorfteich baden. Einmal im Jahr wurde der Teich abgefischt und viele Karpfen gefangen
- (36:35) Aus der Schulklasse gab es nur drei Schüler, die keine Konfirmation erhielten, sondern Jugendweihe. Ein Großteil der Jugendlichen hatten kirchlichen Hintergrund, vor allem dank des großen Engagements von Pfarrer Gümbel zusammen mit seiner Frau. Gerade der Schulleiter Herr Klusmeier setzte die Schüler unter Druck, sich doch für die Jugendweihe zu entscheiden
- (40:35) Zusammen mit der „Jungen Gemeinde“ unter Pfarrer Gümbel unternahmen die Jugendlichen viele Reisen, z.B. radelten sie vom Kremmen nach Alt Ruppin oder es wurde in Boek an der Müritz gezeltet. Mit Mopeds fuhren sie zusammen sogar von Wittbrietzen über Dresden und Prag bis in die Hohen Tatra
- (41:55) Pfarrer Gümbel durfte auf den Zeltplätzen nicht als „Herr Pfarrer“ angesprochen werden, sondern bot den Jugendlichen schnell das Du an und gab sich als Musiker aus, um Probleme mit der damaligen Regierung der DDR zu vermeiden
- (44:30) Von einigen Lehrern wurde aktiv der Eintritt zu den Jung- bzw. Thälmannpionieren und später auch in die FDJ beworben. Die Neugier bei den Schülern für diese Jugendorganisationen wurde geweckt, so dass auch einige beitraten. Wenn auch nicht aus breiter Überzeugung, sondern um kontrovers mitdiskutieren zu können
- (46:20) Dennoch wurden fast alle Kinder aus den Dörfern konfirmiert, es gab nur sehr wenige Ausnahmen, beispielsweise wenn die Eltern in der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) waren. Die Kinder der DDR- Jugendorganisationen mussten letztendlich ihren kirchlichen Glauben leugnen, hatten aber auch einige Vorteile, wie Ausflüge während der Unterrichtszeit
- (49:15) Die Schüler hatten in der Dorfschule ein gutes Rüstzeug für den weiteren Werdegang mit auf dem Weg bekommen. Es gab aber auch Ausnahmen wie in Deutsch und Musik, in denen einige fachliche Begriffe fehlten. Die Schüler halfen sich untereinander mit den Hausaufgaben, nicht jeder hatte den Zugang zu einem Lexikon. Der Zusammenhalt war groß ohne Konkurrenzgedanken untereinander
- (54:20) In den Jahren, in denen die Schüler in Elsholz und Buchholz unterrichtet wurden, transportierte sie ein Schulbus, der nicht sehr zuverlässig fuhr. Darum hatten die Schüler manchmal einen schulfreien Tag
- (55:55) Am 1. Juni fand im Rahmen des „Tages des Kindes“ ein von der Schule organisiertes Sportfest auf dem Wittbrietzener Sportplatz statt. Unterricht gab an diesem Tag nicht. Der Sportplatz lag zu dieser Zeit noch auf dem jetzigen Gelände von Agricola. In den Klassen 5 bis 8 fuhr die ganze Klasse für eine Woche ins Ferienlager nach Pirschheide
- (01:01:35) Beim UTP-Unterricht (Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion) fuhren die Schüler nach Sutendorf / Marggraffshof und halfen dort in den Kuh- und Schweineställen aus. Im ESP-Unterricht (Einführung in die sozialistische Produktion) lernten sie Schweißen, Feilen, Löten und lernten beispielsweise wie ein Viertakt-Ottomotor und ein Wankelmotor arbeitet
- (01:04:35) Jeden Montag zum Beginn der neuen Schulwoche fand auf dem Schulhof einen Fahnenappell statt. Die Schüler aller Klassen mussten sich auf dem Schulhof aufstellen und eine Meldung an den Schuldirektor machen. Nach der Meldung wurde die Pionierfahne gehisst. Der Fahnenappell wurde genutzt, um Neuigkeiten der Schule zu verkünden oder Belobigungen auszusprechen
- (01:07:50) Handgreiflichkeiten von Lehrern gab es nicht mehr, noch einige Jahre bzw. Jahrzehnte zuvor war dies durchaus noch üblich. Allerdings führten manche Lehrer ihre Schüler regelrecht vor, wenn diese z.B. aufgrund ihrer Arbeit auf dem familiären Bauernhof mit schmutzigen Fingernägeln zur Schule kamen
- (01:10:00) In der 4. Klasse fand der Unterricht komplett in der Buchholzer Schule statt. Dort gab es eine Art Dorf-Funk. Im Dorf verteilt gab es Lautsprecher. Der Lehrer Herr Brade war Sprecher bzw. Organisator des Dorf Funks. Er musste den Unterricht öfter mal für einen längeren Zeitraum verlassen. Herr Brade war psychisch sehr labil aufgrund von Kriegserinnerungen, er wurde im 2 WK verschüttet. Nach einem halben Jahr wurde er durch die Junglehrerin Frau Lautsch ersetzt
- (01:13:15)Im Winter wurde nach der Schule gern auf den zugefrorenen Wiesen und dem zugefrorenen Dorfteich gespielt und Schlittschuh gelaufen. Es wurde z.B. ein Holzpfahl durch die Eisdecke in den Boden gerammt, ein 6m langes Seil daran befestigt und am Ende des Seils ein Schlitten, auf dem die Kinder sich festklammerten, wenn der Schlitten mit Schwung den Holzpfahl umkreiste. Auf dem zugefrorenen Dorfteich bauten die Kinder „Knäckerbahnen“, ein Spiel, bei dem sie solange übers zu brechende (=knäckernde) Eis liefen, bis man einbrach. Der Dorfteich war allerdings nicht tief und die Kinder gingen nicht das Risiko ein zu ertrinken
- (01:16:45) Die erste und zweite Klassenstufe teilte sich den Klassenraum mit der 3. Klasse. Das Unterrichten fand dort abwechselnd statt: Während eine Klasse Stillarbeit z. B. Schönschrift durchführte, wurde die andere Klasse vom Lehrer unterrichtet. Die Schüler mussten sich schon sehr auf ihre Arbeit konzentrieren, um nicht von den anderen abgelenkt zu werden. Als die umliegenden Dorfschulen ein paar Jahre später als Schulkombinat umformiert bzw zusammengefasst wurden, gab es diese Form mehrerer Klassenstufen in einem Raum nicht mehr
- (01:18:45) In der 5. Klasse kam Physik, Biologie, Geschichte und Russisch dazu. Chemie wurde ab der 7. Klasse unterrichtet
- (01:19:12) Einmal legte ein Lehrer legte ein frisch gehäutetes Tierpräparat einer weißen Ratte in den Lehrmittelschrank. Dieses entwickelte nach ein paar Tagen einen starken Verwesungsgeruch, den man wochenlang nicht aus den Schulräumen herausbekam
Fragekatalog – Folgende Fragen wurden gestellt
- Wie heißt du und wann bist du in Wittbrietzen zur Schule gegangen?
- Was sind die ersten Erinnerungen an deine Schulzeit?
- Wie groß war eure Klasse? Welches Schreib- und Schulmaterial hattet ihr zur Verfügung und an welche Anschauungsmaterialien und technischaen Geräte erinnerst du dich?
- Welche Erinnerungen hast du an das Schulgebäude, seine innere Ausstattung und den Schulhof? Was hing an den Wänden?
- An welche Lehrer erinnerst du dich und warum? Wie erlebtest du das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern?
- Wie sah dein weiterer Tagesablauf nach der Schule aus und in welcher Weise haben deine Eltern deine schulische Entwicklung begleitet?
- Welchen Stellenwert hatte für dich die kirchlichen Parallelangebote Christenlehre und Junge Gemeinde?
- Mit welchem Bild, welcher Methapher würdest du deine Schulzeit in Wittbrietzen beschreiben wollen?
- Welche besonderen Umstände in der Familie, im Dorf und in der Gesellschaft prägten eure Schulzeit? Welchen Einfluss hatte die Politik auf deinen Schulalltag?
- Gibt es sonstige besondere Erlebnisse oder Konflikte, die du mit deiner Schulzeit / Freizeit verbindest?
- Hast du den Eindruck, eine gute und ausreichende Schulbildung genossen zu haben?
Das ganze Interview gibt es im Archiv
Möchten Sie das komplette Interview anschauen, können Sie gern mit uns einen Termin ausmachen. Nutzen Sie einfach unser Kontaktformular.