Zur Herausbildung des ländlichen Schulwesens in Brandenburg am Beispiel von Wittbrietzen
Detlef Fechner, 6/2021
Der aufmerksame Betrachter kann sie immer noch leicht erkennen. Häufig in rotem Backstein und an zentraler Stelle des Dorfes errichtet, unterscheiden sich die ehemaligen Schulhäuser doch auffällig von den bäuerlichen Wohnhäusern und Anwesen. Jedes Dorf hatte einst seine kleine Schule, heute sucht man eine solche fast immer vergebens. Geblieben sind die Gebäude, inzwischen zumeist privatisiert und als Wohnhaus genutzt. Viele gute Gründe haben zum Aufbau von zentralen Großschulen geführt. Zu den Nachteilen dieser Entwicklung gehört ein beachtlicher Kultur- und Gemeinschaftsverlust auf den Dörfern. Man denke nur an die von ehemaligen Lehrern geleiteten Chöre und kleinen Theatergruppen und das weitgehende Verschwinden des familiären Mittagstisches. Die Abwicklung all der kleinen Dorfschulen fand weitgehend zwischen 1960 und 1995 statt.
An dieser Stelle soll es jedoch vorrangig um die Frage gehen, wann und unter welchen Umständen es überhaupt zur Herausbildung eines ländlichen Schulwesens kam. Das mittelmärkische Wittbrietzen mag dabei die anschauliche Folie bieten, die Entwicklung wird in weiten Teilen Brandenburgs jedoch ähnlich verlaufen sein. Bei der Frage nach dem Wann blicken wir allerdings in eine dunkle Kammer, da es so gut wie keine verlässlichen Belege für die Gründung von Schulen auf den Dörfern gibt. Während es bereits vor der Reformation städtische Schulen bzw. Kloster- und Pfarrschulen gab, sucht man solche Einrichtungen zu dieser Zeit auf den Dörfern weitgehend vergeblich. Allerdings erhielt der Gedanke einer allgemeinen Volksbildung durch die Reformatoren kräftige Impulse, da jeder Mensch in der Lage sein sollte, die Bibel selber zu lesen. Und Luthers enger Mitstreiter Philipp Melanchthon erhielt nicht zu Unrecht die ihn ehrende Bezeichnung ‚Präzeptor Germaniä‘ (Lehrer Deutschlands). Das ländliche Schulwesen dürfte daher frühestens im 16., eher jedoch im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sein. Auf alle Fälle war es kein gleichzeitiger und von einer zentralen Herrschaft gesteuerter Prozess.
Eine interessante Erkenntnis vermittelt uns ein preußisches Generaledikt vom 28.9.1717. König Friedrich Wilhelm I. (der Soldatenkönig) verplichtete darin alle Untertanen, die Kinder in Orten mit einer vorhandenen Schule zum Schulbesuch anzuhalten. Dabei sollten die Kinder im Winter täglich und im Sommer mindestens ein- oder zweimal die Woche gegen Zahlung eines Schulgeldes Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Mit dem Jahr 1717 blicken wir also in eine Zeit, da noch nicht auf allen Dörfern eine Schule vorhanden war. Gleichzeitig gab es bereits die Maxime des Landesfürsten, eine flächendeckende Schulpflicht durchsetzten zu wollen. Dieses Edikt macht uns ebenso auf Merkmale und Dauerkonflikte des frühen Schulwesens aufmerksam: der Zahlung von Schulgeld, der Unterscheidung zwischen einem Sommer- und Winterstundenplan und dem Problem des Schulschwänzens. Bei Letzterem ging die Initiative weniger von den Schülern als vielmehr von den Eltern aus. Kinder waren wichtige Helfer in der Landwirtschaft und die Notwendigkeit des Schulbesuchs wurde von manchen Eltern noch auf lange Zeit nicht eingesehen.
Wittbrietzen gehörte 1717 bereits zu den Dörfern, die eine etablierte Schule hatten. Der älteste eindeutige Beleg dafür stammt aus dem Jahre 1698. Der damalige Küster und Lehrer Andreas Dreyffert verewigte sich mit folgenden Worten in einem der Kirchenbücher:
„In dem Jahre 1698 bin ich durch die Gnade Gottes und Hülfe des heiligen Geistes den 30. Mai hierhergekommen von Gott geschickt, daß ich dieses Amtes verrichten soll. Nun, der mich hierher gebracht hat, dem soll auch mein Mund billig danken vor der Gemeinde und auch den kleinen Kindern in der Schule, ich will sie unterrichten und den Weg zeigen, den sie wandeln sollen, soviel als mir des lieben Gottes Gnade verliehen. Des will ich von Grund meines Herzens thun durch Jesum Christum, der der Lehrmeister und Anfänger und Vollender alles Guten ist. Finis.“
Diesen Worten lässt sich der Beiklang entnehmen, dass Dreyffert wohl nicht der erste Lehrer von Wittbrietzen war und die Schule bereits länger existierte. Aus den kirchlichen Akten erfahren wir zwar die Namen von vier Vorgängern im Küsteramt, jedoch ohne eindeutigen Beleg für eine Lehrtätigkeit.
Wie bereits angedeutet kann man in Brandenburg/Preußen ab etwa 1717 von einer allgemeinen Schulpflicht sprechen. Auch wenn Gesetzeslage und Theorie oft anders als die Praxis aussahen, wurde damit mehr oder weniger die achtjährige Volksschule zur allgemeinen Norm, welche bis nach dem 2. Weltkrieg Bestand hatte. Allerdings lässt sich noch lange nicht von einer achtklassigen Volksschule sprechen, da bis ins 20. Jahrhundert hinein fast alle Jahrgänge in einem Raum unterrichtet werden mussten. Eine gewisse Entflechtung geschah nur, da für die jüngsten Schüler die Stundentafel weniger Unterricht vorsah und es teilweise für die Unter-, Mittel- und Oberstufe einen zeitlich versetzen Unterricht gab. Dennoch gehörte es zum pädagogischen Alltag vieler Dorflehrer, dass sie – je nach Größe des Dorfes – zeitweilig 40 bis 80 Schüler gleichzeitig unterrichten mussten. Ein nahezu gruseliger Gedanke, zumal die Schulräume oft nicht größer als 4 x 5 Meter waren.
Für Wittbrietzen existiert aus dem Jahre 1811 ein erschütternder Klagebrief des Lehrers Wilhelm Baake über den desolaten Zustand des Schulhauses, sowohl das Klassenzimmer als auch den Wohnbereich betreffend. Wie wir den Ausführungen Baakes entnehmen können, handelte es sich bei diesem Haus um einen Fachwerkbau. Wenngleich es in der Folge zu einigen Reparaturen kam, brannte das Dach des Schulhauses am 31.1.1829 tatsächlich ab. Lehrer Baake, inzwischen bereits emeritiert und sehr krank, musste dabei durch das Fenster gerettet werden. Bereits am 25. März 1829 verstarb er im Alter von 59 Jahren:
„Das ganze Schulhaus bedarf sowohl inwendig als auch auswendig nöthige Reparaturen. Die meisten Wände sind löchrich, daß man auf die Straße durchsehen kann. Einem Wandfach droht sogar der Einsturz. Die Decke der Schulstube ist so gefährlich, daß vergangenen Winter beinahe ein Schulkind durch Herabfallen eines pfundschweren Stücks Kalk beschädigt ward. Die Schulstube ist in viel Jahre nicht ausgeweißt, folglich beinahe so schwarz wie in der Kammer. Des Winters ist es in derselben, besonders in den Nachmittagsstunden, so dunkel, daß die Classen kaum zum Aufschlagen sehen können. Genannte Stube ist ohngefähr 13 Fuß breit und 16 Fuß lang (ca. 4,08 x 5,02 m), also für einige achtzig Kinder, die darin zusammen gepreßt sitzen müssen, zu klein. Ich habe darin nicht so viel Raum, daß ich sitzen oder zu den Kindern kommen (kann), ihnen etwas vorzuschreiben und schlechtgemachte Buchstaben oder Wörter corrigiren kann.
In das Fenster der Wohnstube sind nur 4 Scheiben noch ganz, der Rahmen und die Zarge desselben sind verfault. Ich habe solches beym Einzug des Hauses so gefunden (1808). Der Ofen bedarf des Umsetzens. Ich habe denselben schon einige mal in- und auswendig verschmieren lassen, und doch fiel im verwichenen Winter eine Kachel aus demselben, das Feuer schlug in die Stube und hätte beinahe das daranstehende Bette ergriffen. Welch Unglück hätte geschehen können! In der Küche ist es auch sehr gefährlich auf dem Herde und in dem Ofen Feuer zu haben, zumal wenn Morgenwind (Ostwind) ist und die Kinder versammeln sich zur Schule, da dann die Hausthür vielmal auf und zugemacht wird, auch oftmals aufbleibt, fliegen Funken-Feuer an die Stallthür, die kaum drey Schritt von dem Feuerherd ist, sie darf nur einmal aufstehen, oder das Feuer fliegt durch die Ritzen derselben, unausbleibliche Feuersbrunst entstände. Schon mein Vorgänger hat die Obrigkeit dieserhalb um Erbauung eines anderen Stalles ersucht. Der Giebel zur Abendseite (Westseite) ist schadhaft, daß der Regen die Bodendecke durchweicht und das Wasser in der Stube in das dastehende Spinde läuft, und mir einige Sachen darin schon verdorben hat. Der Fußboden des Bodens ist dünn, löchrig und uneben, er bedarf mit Lehm gemacht zu werden. Die Oberdecke desselben machen nur einige Stangen aus, worauf Stroh oder Heu bis an den Schornstein wegen Mangel des Raumes gelegt werden muß. Leicht können also böse Menschen mir meine wenigen Habseligkeiten von demselben rauben. Ich bitte inständigst um Abhelfung erwehnter Unglücksfälle.“
In Folge des Brandunglücks von 1829 kam es zu einem völligen Neubau des Schulhauses, inzwischen bereits aus Stein. Im September 1832 wurde es seiner Bestimmung übergeben. Alle darauf folgenden Protokolle der Schulvisitationen sprechen nun von einem guten Zustand des Schulgebäudes.
Das wohl älteste Schulfoto von Wittbrietzen aus dem Jahr 1878 mit Lehrer Kanow, mit hoher Sicherheit wurde es vor der alten Küsterei fotografiert
Ein nicht geringes Problem des Schulalltags war, dass manche Eltern – trotz allgemeiner Schulpflicht – ihre Kinder zeitweise nicht zur Schule schickten. Die Mithilfe in der Landwirtschaft hatte offensichtlich Vorrang. Für Wittbrietzen sah dies am Ende des 18. Jahrhunderts wie folgt aus:
Winterhalbjahr 1782/83: „schulfähige Kinder insgesamt: 36 / davon regelmäßig zur Schule: 22 / unregelmäßig: 12 / gar kein Schulbesuch: –„
Winterhalbjahr 1796/97: „schulfähige Kinder insgesamt: 46 / davon regelmäßig zur Schule: 46 / unregelmäßig: –„
Sommerhalbjahr 1797:„Von Johannis (24.6.) bis Michaelis (30.9.) sind keine Kinder zur Schule gekommen, sind alle ausgeblieben“.
Aus der Feder des späteren Chronisten von Wittbrietzen (Pfr. Knopff, ca. 1870) erfahren wir rückblickend etwas über die Hintergründe dieser betrüblichen Situation:
„Besonders traurig steht es um die damaligen Schulverhältnisse. Der Küster Müller wollte durchaus regelmäßigen Schulbesuch eingeführt haben; der Pfarrer lavierte in dieser Sache, um namentlich der Gemeinde nicht zu nah zu treten und lästig zu werden, jedenfalls suchte er sich zu ducken gegen die Vorwürfe der Obrigkeit. Ja während der Küster über ganz aufgelösten Schulbesuch berichtet, beantwortet der Pastor die in seinem Formular stehende Frage: Wie sehr die Gemeinde für den Unterricht der Kinder sorgt?: Sehr zu loben!“
Diese statistischen Angaben erfahren wir aus den damaligen Schulkatalogen bzw. Conduiten-Listen, aus gedruckten Fragebögen der königlichen Regierung, die sowohl von den Lehrern als auch von den Pastoren jährlich auszufüllen waren. Diesen Listen ist zu entnehmen, dass die Unterrichtszeit in jenen Jahren im Winterhalbjahr von 8.00 – 11.00 Uhr sowie von 12.00 – 15.00 Uhr währte und im Sommerhalbjahr lediglich von 7.00 – 10.00 Uhr, einschließlich von 3-4 Stunden am Samstagvormittag. Die tägliche Pause von 11.00 – 12.00 Uhr war offensichtlich für das häusliche Mittagessen vorgesehen und die enorm reduzierte Unterrichtszeit im Sommer war ein Zugeständnis an die bäuerlichen Familien, damit die Kinder bei der Ernte helfen konnten.
Ein nicht immer unproblematisches Thema war die Zahlung von Schulgeld. Für das Schuljahr 1792/93 ist zu vernehmen: „Das Schulgeld ist üblich 6 oder 8 Groschen im Quartal und beträgt insgesamt jährlich 20 Thaler. Zum unendgeldlichen Unterricht sind keine Kinder vorgekommen.“
Unter der Annahme, dass mit einem Quartal früher nicht das Vierteljahr, sondern das Halbjahr gemeint war (nur dann kommen bei 40 Schülern im Jahr etwa 20 Taler zusammen. / Die damalige Müllerinnung, die sich nur zweimal im Jahr traf, nannte ihren Treffen ebenfalls „Quartals-Versammlungen“), betrug das jährliche Schulgeld für einen Schüler einen halben Taler (=12 bzw. 16 Groschen). Diese Summe entsprach dem Gegenwert von 6-8 Hühnern. Bauern und Kossäten (Halbbauern) konnten diesen Betrag wohl ohne größere Probleme erbringen. Daher brauchte 1792/93 offensichtlich kein Erlass von Schulgeld gewährt werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich jedoch die Einwohnerzahl von Wittbrietzen, darunter zunehmend Knechte, Handwerker, Büdner und Tagelöhner. Für diese Familien wurde das Schulgeld durchaus zu einem finanziellen Problem, v.a. wenn mehrere Kinder die Schule besuchten. Als 1848 die sogenannte Märzrevolution kurzzeitig aus Berlin und anderen Städten bis nach Wittbrietzen schwappte, war bei einer Mini-Demo auf dem Dorfplatz eine der lautesten Forderungen: „Kein Schulgeld mehr, Herr Pfarrer!“. Allerdings gewährte der dörfliche Schulvorstand fast jährlich zwischen 6 – 11 Kindern einen Schulgelderlass, v.a. für arme und kinderreiche Familien.
Bis nach dem 1. Weltkrieg übernahm seit alters her der Schulvorstand einen Teil der Aufsicht und Verantwortung für das dörfliche Schulwesen. Von der Dorfgemeinschaft wurden in der Regel 2 bis 3 Schulvorsteher gewählt, die gemeinsam mit dem Pfarrer den Schulvorstand bildeten. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte das Einsammeln und Verwalten des Schulgeldes, die bauliche und räumliche Verantwortung für das Schulhaus, die Genehmigung zur Anschaffung von pädagogischen Materialien (Bücher, Globen, Landkarten etc.) sowie die Erhebung von Strafgebühren bei Schulbummelei. Größere Bauvorhaben bedurften der Genehmigung des Dorfvorstandes. So heißt es in einem Protokoll des Schulvorstandes vom 3. August 1853:
„Am heutigen Tage eröffnete der Pfarrer dem versammelten Vorstande, daß auf Wunsch des (Dorf-)Schulzen die Kassenführung und Einziehung des Schulgeldes vom Bauer und Schöffen Martin Müller übergeben sei.
Ebenso legte er demselben die Verfügung der königl. Regierung vom 19. Juli vor, wodurch der Schulvorstand ermächtigt wird, einigen der ärmsten Familienvätern etwas vom Schulgeld zu erlassen, nach den näheren Bedingungen, welche die königl. Regierung angibt. Der Schulvorstand einigte sich dahin, den Büdnern G. Hene, Peter Bolz, der Witwe Clavier und dem Einlieger Gebhard ein Kind frei zu lassen.“
Neben dieser baulich, sächlich und finanziell orientierten Verantwortung fand sich für die pädagogischen und personellen Aspekte des Schulbetriebs eine zweite hierarchische Ebene. Der unmittelbare Vorgesetzte des Lehrers war der Ortsschulinspektor in Person des Pfarrers, die mittlere Schulaufsicht lag beim Kreisschulinspektor in Person des Superintendenten und die obere Schulaufsicht lag bis 1918 bei der Königlichen Regierung, Abteilung für Kirchen- und Schulwesen. Es lässt sich hierbei durchaus von einer schlanken Verwaltung reden, da Pfarrer und Superintendent diese Aufgaben als Teil ihres Pfarrdienstes wahrnahmen und dafür nicht extra vergütet wurden. Während von der Regierung in Potsdam die Anstellungen und Versetzungen der Lehrer entschieden, größere Konflikte geklärt und grundlegende pädagogische Vorgaben erlassen wurden, fand die eigentliche pädagogische Arbeit vor Ort statt. Bei weitgehender Ermangelung von zentralen Lehrplänen hatten lange Zeit Lehrer und Pfarrer ihre Lehrpläne und Stundentafeln selber zu erarbeiten. Allerdings mussten sie diese beim Kreisschulinspektor zur Genehmigung einreichen. Erst ab 1871 – nach Gründung des Deutschen Reiches – und nach einem Anwachsen der staatlichen Bürokratie nahmen zentrale Vorgaben immer mehr zu.
Die Ausarbeitung der Lehrpläne und Stundentafeln fand, nach Vorarbeit der jeweiligen Lehrer, bei den etwa monatlich stattfindenden Lehrerkonferenzen statt. Hier im Ort kam dazu der Pfarrer mit seinen beiden Lehrern aus Wittbrietzen und Salzbrunn zusammen. Diese Beratungen wurden ausführlich protokolliert. Bei diesen Lehrerkonferenzen wurden ferner disziplinarische Konflikte besprochen, die Erlasse und Schulblätter der Regierung verlesen, das sogenannte „Osterexamen“ vorbereitet, Absprachen für besondere Gottesdienste oder Schulfeierlichkeiten getätigt (nach 1870 war dies v.a. das jährliche Sedan-Fest oder des Kaisers Geburtstag) oder pädagogische Themen diskutiert. So spiegelt sich im Protokollbuch der Lehrerkonferenz vom 10. Dezember 1869 die Einführung des Dezimalsystems für die neuen Gewichts- und Längenmaße:
„Den Lehrern wurde in Bezug auf die neue Gewichts- und Maßrechnung und die damit zusammenhängende Dezimalrechnung noch einmal, wie schon vom Hrn. Ephorus (Superintendent) geschehen, empfohlen, den Kindern zuvörderst das neue Maß und Gewicht nach Verhältnis des alten zu erklären und die betreffenden Umrechnungen elementarisch vorschreibend darzustellen. Es wurde, wie Lehrer Siemon schon gethan hatte, das Beschaffen eines Meters zum anschaulichen Vorzeigen und Erklären an die Kinder gutgeheißen.“
Mit der Einführung des Dezimalsystems kamen die alten Maßangaben, wie Dutzend, Schock (5 x 12 = 60), Meile u.a. zunehmend außer Gebrauch, da sie weitgehend auf dem Zwölfer-System basierten. Die Einführung der Reichsmark musste noch einige Jahre warten. Die alte Geldwährung basierte ebenfalls auf dem Zwölfer-System: 1 Taler = 24 Groschen = 288 Pfennige.
Im Blick auf die Lehrerkonferenzen könnte es sein, dass der damalige Pfarrer von Wittbrietzen Dr. Friedrich Liebetrut eine Initialzündung für die Entstehung der späteren Kreis-Lehrerkonferenzen ausgelöst hat. Liebetrut, seit 1831 in Wittbrietzen im Pfarramt, war zuvor von 1827 – 1831 an einer höheren Bürgerschule in Potsdam als Lehrer tätig. Pädagogik war ihm Herzenssache. Außerdem war er ein Sohn des Nachfolgers von Lehrer Bruns in Reckahn, der einstigen Musterschule der Aufklärungszeit. Etwa 1834 begann Liebetrut zu „größeren Lehrerkonferenzen“ einzuladen. Dabei versammelten sich hier in Wittbrietzen bis zu 11 Dorfschullehrer aus der Region, von Pechüle bis Deutsch Bork und von Niebel bis Resdorf. Nach Ausweis der wenigen erhaltenen Unterlagen dienten diese Zusammenkünfte v.a. der pädagogischen Weiterbildung und dem Erfahrungsaustausch. Im Frühjahr 1836 wurde die königliche Regierung auf die Initiative von Liebetrut aufmerksam und erbat Berichte von ihm. In einem Antwortschreiben der Regierung heißt es unter dem 23. Mai 1836: „ … und mögen Sie, wie wir Ihr Bemühen mit Beifall anerkennen, auch den fleißigen Theilnehmern an den Konferenzen Zufriedenheit bezeugen.“
Das preußische Schulwesen steht oft unter dem Generalverdacht, eine üble Prügel-Schule gewesen zu sein. Gewiss, die Möglichkeit der körperlichen Züchtigung gehörte bis nach dem 2. Weltkrieg zur anerkannten Erziehungsmethode. Abgesehen von der Tatsache, dass die preußische Gesetzgebung klare Grenzen für die Anwendung der Prügelstrafe formulierte, geben auch die Wittbrietzener Akten Anlass, dieses einseitige Bild zu relativieren. So erhielt im Frühjahr 1853 Pfr. Liebetrut eine Beschwerde, dass Lehrer Siemon ein Kind „heftig an den Kopf“ geschlagen hätte. Daraufhin bestellte dieser umgehend seinen Lehrer ein und ermahnte ihn, Kinder „nie an den Kopf zu schlagen“. Als Lehrer Siemon seinem Vorgesetzten nicht versprechen wollte, dies in Zukunft zu unterlassen, erging von Liebetrut eine Beschwerde an die Obrigkeit, welche mit einer Disziplinarstrafe für den Lehrer endete.
Für das 19. Jahrhundert finden sich in den hiesigen Akten etwa 2 – 3 elterliche Beschwerden, weil deren Kinder vom Lehrer für Verfehlungen geschlagen wurden, welche außerhalb der Schulzeit geschahen. Auch hier erfolgten umgehend Ermahnungen an die Lehrer, dass dies nicht zulässig sei. Bei der Auswertung solcher Fälle in den Lehrerkonferenzen wurde immer wieder die pädagogische Maxime aufgestellt, dass Lehrer solche Vergehen bei den Kindern zwar ansprechen sollen, eine Züchtigung jedoch ausschließlich Sache der Eltern sei.
Überhaupt hat es den Anschein, dass betroffene Eltern sich nicht scheuten, unangemessene oder zu heftige Bestrafungen ihrer Kinder sehr schnell beim Dorfschulzen, beim Pfarrer oder gleich beim Superintendenten zur Anzeige zu bringen. Einer dieser Fälle ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen, weil der Lehrer dabei wohl zu unrecht beschuldigt wurde. Und zweitens, weil die ‚preußische Bürokratie‘ durchaus in der Lage war, solche Beschwerden sehr zügig und gründlich zu bearbeiten, und dies ohne alle modernen Kommunikations- und Verkehrsmittel. Was war geschehen? Am 28.1.1857 ging beim Superintendenten in Treuenbrietzen eine Beschwerde des Dorfschulzen Heinrich ein, nach der Lehrer Siemon den Sohn des Bauern Müller „an Nase, Ohren und Mund ganz braun und blau und dick“ geschlagen hätte. Noch am gleichen Tag wendete sich der Superintendent schriftlich an Pfarrer Liebetrut und beauftragte ihn, die Angelegenheit zu unterrsuchen. Am 31. Januar fand eine Sondersitzung des Schulvorstandes statt, bei der mehrere Zeugen vernommen wurden. Das schriftliche Protokoll wurde umgehend nach Treuenbrietzen gesandt und bereits am 4. Februar erhielt der Schulze Heinrich zur Antwort:
„Auf Ihre unterm 28ten v.M. eingereichte Beschwerde über den Lehrer Siemon wegen Mißhandlung des Sohnes des Bauers Müller erwidere ich Ihnen, daß ich den Fall durch den Herrn Prediger Liebetrut sofort habe untersuchen lassen. Der Schulvorsteher Traute erklärte in der Verhandlung vom 31ten v.M., daß er an dem Knaben nichts bemerkt habe, der Schulvorsteher Lintow dagegen, daß ihm die eine Seite des Gesichts des Knaben etwas röther geschienen, daß er jedoch von dem in der Beschwerde bemerkten blau und braun und dick geschlagen nicht das Geringste gesehen habe. Da nun beide den Knaben sogleich nach der Schule besichtigt haben, so ergibt sich hieraus, daß dem Knaben keine strafbare Mißhandlung widerfahren ist. …..“
Dennoch spielte die ‚Einhaltung von Zucht und Ordnung‘ eine zentrale Rolle im damaligen Schulalltag. Wie hätte es auch anders sein sollen, wenn in einem Klassenraum nicht nur 40, sondern zeitweise sogar zwischen 60 und 80 Kinder unterrichtet werden mussten. Daher verwundert es nicht, wenn Superintendent Schröter seiner Antwort an den Schulzen Heinrich noch folgende Worte hinzu fügte:
„Schließlich füge ich noch hinzu, daß ich den g. Siemon angehalten habe, mit Nachdruck auf Zucht und Ordnung in der Schule zu halten, weil nach meiner eignen Wahrnehmung durch die interimistische Verwaltung der dasigen Schulstelle beides sehr gelitten hat, und es sollte die Gemeinde Wittbrietzen es dem Lehrer Siemon danken, wenn er … ihre Schuljugend nicht nur in Kenntnissen fördert, sondern sie auch zu guten Sitten zu erziehen sucht.“
Solcher Art von elterlichen Beschwerden finden sich in den Akten v.a. aus der Amtszeit von Lehrer Siemon, der hier von 1850 – 1870 tätig war und welcher 1870 noch vor seiner eigentlichen Pension als offensichtlicher Alkoholiker starb. Anderen Lehrern wurde aus Anlass von Schulrevisionen beschieden, dass sie eine gute Zucht und Ordnung hielten und manche wurden wegen zuviel Nachsicht und Milde kritisiert.
Wie sah nun der eigentliche Schulalltag, wie sahen Stundenpläne und Unterrichtsinhalte aus? Der für Wittbrietzen älteste erhaltene „Lektionsplan“ stammt aus der Feder des bereits genannten Lehrers Baake. Obwohl undatiert, dürfte dieser aus den Jahren 1810 – 1820 stammen. Vorausgeschickt sei, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein das neue Schuljahr immer nach den Osterferien mit dem reduzierten Sommer-Lektionsplan begann, welcher bis Michaelis (30. September) währte. Vom 1. Oktober bis zu den Osterferien fand Unterricht auch am Nachmittag statt. Für die 14-jährigen Schüler endete ihre Schulzeit vor Ostern mit der Konfirmation. Ferien gab es im Sommer vier Wochen (Roggenernte), im Herbst zwei Wochen (Kartoffelernte) sowie zu Ostern und über den Jahreswechsel ebenfalls zwei Wochen. Über Pfingsten gab es nur 5-6 Tage Ferien. Da uns Lehrer Baake mit seinem Lektionsplan etwas tiefere Einblicke in sein inhaltliches und methodisches Wirken ermöglicht, sollen Teile daraus etwas ausführlicher zitiert werden. Zu dieser Zeit gingen in Wittbrietzen 70 – 80 Kinder zur Schule.
Montag Vormittag von 8 bis 9 Uhr:
„Wird nach Gesang und Gebet von zwey Kindern ein Hauptstück aus Luthers Katechismus überhört, dann wird Christenthum gelehret; dies geschieht entweder durch kurze Wiederholung der Sonntagspredigt, oder es wird ein Katechismusstück von ein oder zwey Kindern langsam hergesagt, solches wird zergliedert in einzelne Fragen, das Dunkle erklärt, und den Kindern leicht, verständlich und achtungswürdig gemacht, es aufs gemeine Leben und das Verhalten derselben anzuwenden; bisweilen werden dabei biblische Beweisstücke aufgeschlagen, …“
Montag von 9 bis 10 Uhr:
„Wird theils nach Vorschriften, theils auch nach Vorgeschriebenes auf Papier geschrieben. Die Kinder aus der Leseklasse, welche nicht schreiben, lernen unterdessen stille für sich einen Spruch, oder Lied, oder Katechismus, was ihnen zum Auswendiglernen aufgegeben ist und die Buchstabier- und ABC-Klasse nimmt ihren Anfang.“
Montag von 10 bis 11 Uhr:
„Wird gelesen in der Bibel, im neuen Testament; jedes mal nach den Unterscheidungszeichen, langsam und deutlich. Um die Aufmerksamkeit zu erhalten … und der Nutzen des Lesens nicht verloren geht, wird immer ein Kind außer der Reihe dazu aufgerufen. Nun wird gezählt von 1 – 100, und das Einmal Eins hergesagt.“
Montag Nachmittag 12 bis 1 Uhr:
„Wird geschrieben auf Papier nach Vorschriften, und nach Vorgeschriebenes. Zuweilen wird auch von einige Kinder ein Liedvers oder Spruch oder Kathechismusstück, was sie schon gelernt haben, aus ihrem Gedächtnis auf Schiefertafeln geschrieben. Bei der Korrektur wird auch auf Kalligraphie und Orthographie Rücksicht genommen. Unter der Zeit lernt die ABC-Klasse die Buchstaben und Zahlen kennen.“
Montag von 1 bis 2:
„Ist Beschäftigung mit der Buchstabierklasse; nach diesem wird ihnen ein kleiner Spruch, oder Kindervers, oder ein Gebet vorgesprochen, und dem Gedächtnis eingeprägt. Die Großen übersehen unter dieser Beschäftigung ihre Lektionen.“
Montag von 2 bis 3:
„Wird im Gesangbuch oder in der Bibel gelesen, jedes mal außer der Reihe. Mitunter wird über das Gelesene auch einige Fragen gethan. Ist die Stunde noch nicht zu Ende, so wird noch etwas von unterscheiden und vergleichen, oder von Ursache und Wirkung vorgenommen.“
An den Folgetagen finden sich häufig Vermerke „Wie am Montag Vormittag von 8 bis 9 Uhr“. Nachfolgend daher nur Lektionen mit einem neuen inhaltlichen bzw. methodischen Schwerpunkt.
Dienstag Nachmittag 12 bis 1 Uhr:
„Ist eine halbe Stunde Singestunde, um die Jugend die Kindermelodien der Gesänge zu erlernen. Damit die Kleinen auch mitsingen lernen, wird ein Vers nach dem andern aus einem schönen Liede von einem Kinde deutlich und langsam vorgesprochen. Mitunter müßen zwey oder auch nur ein Kind einen Vers allein anfangen und absingen. Die zweite halbe Stunde wird Anleitung zu guten Sitten gegeben, indem man das Gesittete oder Ungesittete, daß man an Kinder oder Erwachsenen wahrnimmt, den Kindern bemerklich macht und durch Beispiele als achtungs oder verachtungswürdig, nützlich oder schädlich vorstellt, …“
Dienstag 1 bis 2 Uhr:
„Wird aufgeschlagen in der Bibel und darin gelesen. Ist noch Zeit übrig, so wird ein kurzer Satz fehlerhaft an die Tafel geschrieben, die Kinder suchen die ortographischen Fehler, und das Angeschriebene wird gelesen.“
Dienstag von 2 bis 3:
„Wird geschrieben und Kopfbuchstabierübung getrieben, auch auf Schiefertafeln gerechnet, und die Register des alten und neuen Testaments zum Aufschlagen geübt. Nach das Buchstabieren und ABC-lernen der Kleinen wird das Nachdenken derselben erwirkt und geschärft, durch allerley vorgelegte Fragen, die anfänglich nur bekannte sinnliche Dinge betreffen, z.B. wer bist du, wie heißt du, dein Vater, das Dorf – wie viel Füße hat ein Mensch, Pferd, Vogel, – was sieht schwarz, grün, weiß, gelb und roth aus, – was ist hart, leicht, schwer, weich, eßbar, trinkbar, durchsichtig, untrinkbar, undurchsichtig, – Wozu nutzt ein Beil, Messer, Degen, eine Axt, Säge, Sense. – Wie kann das, was nützlich ist, schädlich werden! Wozu wird eine Sache gebraucht, z.B. das Licht, die Hände, das Holz – was muß man haben um sich zu kleiden, zu bedecken den Kopf, den Hals, die Hände, Beine und Füße, – um zu sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, laufen, um etwas fest zu halten, um eine Last zu tragen, um satt zu werden, um den Durst zu stillen, um Feuer zu löschen, Brod zu schneiden, um etwas zu kaufen, zu finden; was muß man thun, wenn man gefallen ist? – Was ist das Gegentheil von arm (wer ist arm?), glücklich, schön, fleißig, geschickt, dumm, vernünftig, gehorsam, stark, groß, verständig, höflich, mäßig“
Mittwochs von 8 bis 9 Uhr:
„Wird das Auswendig gelernte, von einigen Kindern, zur Einsparung der Zeit, wiederholt. Dann wird der Katechismus überhört. Dann wird ihnen noch etwas von D Mayers einheimische Giftgewächse gelehret.“
Mittwochs von 9 bis 10 Uhr:
„Wird eine kleine Geschichte aus Rochows Kinderfreund, oder ein Kapitel aus … Noth- und Hülfsbüchlein von geübte Kinder gelesen, einige Fragen darüber gethan, und zum Nutzen anwendbar gemacht.“
Neben dem berühmten „Kinderfreund – Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen“ von Friedrich Ebehard von Rochow umfasste die damalige Schulbibliothek etwa 20 Bände. Für den Geografieunterricht standen bereits Landkarten von Preußen, Deutschland, Europa, Afrika, Asien und Amerika zur Verfügung. Wie der damalige Pfarrer Schröter berichtet, befanden sich im Schulzimmer lediglich 4 Tische, an denen die älteren Schüler vis-a-vis auf Bänken saßen. Auf weiteren 14 Bänken saßen die jüngeren Schüler, offenbar ohne jegliche Tische.
Während im Nachbardorf Salzbrunn/Birkhorst die 30-40 Schüler ohne größere Probleme in einem Schulzimmer unterrichtet werden konnten, nahm die Raumnot in Wittbrietzen bei weiter wachsender Schülerzahl immer bizarrere Formen an. Dies führte dazu, dass man die Schüler erst in zwei, später in drei Abteilungen teilte und ihnen einen zeitlich versetzten Unterricht anbot. Dabei kam es zeitweise zu einer Verkürzung des Unterrichts auf 45 Minuten, um mehr Lektionen pro Tag vorhalten zu können. Am Ende half nur noch, die Schülerzahl lag inzwischen bei 100 bis 110, der Bau eines zweiten Schulhauses. Nach über 5-jähriger Planungs- und Bauzeit wurde es am 1. Oktober 1889 in Betrieb genommen. Auch dieses Schulhaus hatte zunächst nur einen Schulraum und die obligatorische Lehrerwohnung. Immerhin konnte Wittbrietzen nun zwei Lehrerstellen vorhalten, wobei die Stelle des ersten Lehrers – in Kombination mit dem Küster- und Kantorenamt – deutlich besser dotiert war. In einem Bericht aus dem Jahre 1890 heißt es:
„Die Schule in Wittbrietzen ist eine dreiklassige mit zwei Lehrern, von denen der Erste im Sommerhalbjahr 26 und im Winterhalbjahr 30, der Zweite im Sommer 28 und im Winter ebenfalls 30 Unterrichtsstunden wöchentlich zu erteilen hat. Außerdem erhalten die Mädchen der Ober- und der Mittelstufe während des Winters wöchentlich 2 Stunden Handarbeitsunterricht von einer hierzu angenommenen Hilfslehrerin…..
Die Zeit des Unterrichts ist im Sommer von 7 bis 12 Uhr vormittags, im Winter von 8 bis 12 vor- und von 1 – 3 Uhr nachmittags. Zu bemerken ist noch, daß die Unterstufe 3, die Mittelstufe 2 und die Oberstufe wiederum 3 Jahrgänge umfaßt.“
Da beide Schulhäuser etwa 400 m voneinander entfernt lagen, wurde die Oberstufe weiterhin im alten Küsterschulhaus von dem dort wohnenden ersten Lehrer unterrichtet: mit 28 Wochenstunden im Winter und 24 im Sommer. Die Unter- und Mittelstufe wurde weitgehend vom zweiten Lehrer zeitversetzt im neuen Schulhaus unterrichtet; die Mittelstufe mit 24 bzw. 20 Wochenstunden und die Unterstufe jeweils mit 12 Wochenstunden. Während der Sportunterricht für alle drei Stufen vom zweiten Lehrer gehalten wurde, half der erste Lehrer mit vier Stunden pro Woche in der Mittelstufe aus (2 Stunden Singen und 2 Stunden „kursorisches Lesen“). Für 1890 sah die konkrete Stundentafel wie folgt aus:
Die konkrete Ausformung eines Schulwesens unterliegt heute und unterlag zu preußischer Zeit einem ständigen Veränderungsprozess. In Zeiten großer politischer Umbrüche (1870/71, 1918/19, 1933, 1945/49) waren die Veränderungen oft massiver, in den Zwischenzeiten eher gemächlicher Natur. Dennoch hat es den Anschein, dass die dreistufige Klassenstruktur in Wittbrietzen bis nach 1945 praktiziert wurde. Erst danach setzte sich die acht- bzw. zehnklassige Schulstruktur durch. In kleineren Dörfern blieb es bis nach dem zweiten Weltkrieg weitgehend bei der einklassigen Struktur, entflechtet lediglich durch mehr oder weniger Pflichtstunden für die einzelnen Jahrgänge.
Im Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung des Unterrichts gewinnt man den Eindruck, dass bis 1870 die Unterrichtsinhalte weitgehend vor Ort geplant und entschieden wurden, diese lediglich der Genehmigung des Kreisschulinspektors bedurften. Erst mit der Reichsgründung von 1871 nahmen staatliche Vorgaben und Zentralisierungsbestrebungen für den Lehrplan immer mehr zu. Dies blieb nicht ohne Konflikte, auch wenn man auf den Dörfern weitgehend kaisertreu und obrigkeitshörig war. Als 1908 die Vorgaben der Regierung für den Geografieunterricht forderten, den deutschen Kolonien einen sehr umfangreichen Rahmen zu geben, stieß dies bei der hiesigen Lehrerkonferenz durchaus auf Kritik. Dies nicht aus prinzipieller Natur oder gar aus Kritik am Kolonialismus, sondern deshalb, weil andere für wichtig erachtete Themen damit zu kurz kämen.
Ach ja, auch der frühere Schulalltag kannte das Problem von Epidemien. Als im Februar 1899 die Masern wüteten und von 107 Schülern 48 bereits fehlten (teilweise krank, teilweise als Familienmitglied betroffen), sollte der Schulbetrieb auf Anweisung des Landrats noch nicht eingestellt werden: „Ein Schluß der Schule findet bei Masern-Erkrankungen nur statt, wenn die Schülerzahl so minimal ist, daß Unterricht nicht mehr abgehalten werden kann. Dies ist dort zur Zeit noch nicht der Fall.“ Und als bereits vier Jahre später, im August 1903, eine Typhus-Epidemie herrschte, hieß es von Seiten des Landrats: „Bei der großen Ausdehnung, welche die Typhus-Epidemie dortselbst genommen hat, ist es erforderlich, alle Maßnahmen durchzuführen, die zur Verhinderung der Weiterverbreitung der Krankheit dienen. Nach dem Gutachten des Herrn Kreisarztes ist es notwendig, daß die Geschwister oder Kinder Erkrankter vom Schulbesuch ausgeschlossen werden, bis der behandelnde Arzt die Zulassung derselben erlaubt.“
Bleibt abschließend zu erwähnen, dass es auch in früherer Zeit private Unterstützer und Förderer von Schulen und Schülern gegeben hat. Von dem ehemaligen Pfarrer Dr. Liebetrut ist bekannt, dass er wohl nach seiner Emeritierung ein Legat mit der Maßgabe gestiftet hat, dass aus den jährlich anfallenden Zinsen arme Schüler unterstützt werden sollten. Auf der Basis von einer Vorschlagsliste der Lehrer beschloss der Gemeindekirchenrat die jährliche Auszahlung dieser Gelder. Und für das Jahr 1898 findet sich der Vermerk, dass ein ursprünglich aus Wittbrietzen stammender Gymnasiallehrer ein Lehrbuch und 15 Reichsmark geschenkt habe: „Das Buch wird der Schulbibliothek einverleibt werden, das Geld aber mit verwendet, um bei dem, für den 4. Sept. in Aussicht genommenen Kinderfest, der gesamten Schuljugend eine kleine Bewirtung zuteil werden zu lassen.“
Nach dem 1. Weltkrieg kam mit der sich etablierenden Weimarer Republik die erste große Zeitenwende für das ländliche Schulwesen. Das bisher in gemeinsamer Verantwortung von Kirche und Staat geführte Schulsystem überging in die alleinige Verantwortung des Staates. Auch hierfür mag es viele gute Gründe gegeben haben. Zum entscheidenden Nachteil gehörte, dass diktatorisch gesinnte Herrscher nun leichteres Spiel hatten, das gesamte Schulwesen unter ihre absolute Kontrolle zu bringen.
Detlef Fechner, 6/2021